Und dann noch Nesselwang…

 

Viehscheid ist die fünfte Jahreszeit im Allgäu, so wie der Karneval im Rheinland. Entsprechend voll sind die Wohnmobilstellplätze und vermutlich auch die Hotels und Pensionen. Der Stellplatz in Pfronten-Weißbach war quasi doppelt belegt. Gut, dass man Wohnmobile noch nicht stapeln kann! Viehscheid und Weihnachten, das sind die Termine, wo einfach Ausnahmezustand herrscht. Nachdem der Stellplatz bis auf den letzten Platz belegt war, wurden die weiterhin wie an der Perlenschnur anreisenden Wohnmobile auf dem Firmengelände aufgereiht und schließlich standen sie auch im gesamten Wendehammer am Ende der Straße. Es wurde sonntags etwas besser, aber nur, um donnerstags wieder loszugehen. Am Wochenende nach dem Viehscheid in Pfronten war Nesselwang an der Reihe. Wir hatten inzwischen Besuch bekommen und so fuhren wir am Viehscheid-Samstag dort hin, per Smart und per Rad. In Nesselwang war die Ankunft und Aufteilung der Rinder an den Parkplätzen der Alpspitz-Seilbahn vorgesehen und dort war auch das große Festzelt aufgebaut. Der Wohnmobilstellplatz liegt gleich nebenan, natürlich war auch er übervoll. Deswegen standen etliche Wohnmobile zwischen den PKWs und es sah so aus, als ob sie dort auch über Nacht stehenbleiben und geduldet würden. Platzeinweiser sorgten für einen reibungslosen Ablauf und obwohl wir recht früh dran waren, war der riesige Parkplatz schon gut gefüllt. Wir reihten uns ein und suchten uns einen Stehplatz hinter dem Lift zur Sommerrodelbahn. Dort würden die Herden entlangkommen, irgendwann demnächst. Und damit würde ihr schönes Sommerurlaubslebensgefühl der letzten 100 Tage auf saftigen Alpwiesen leider zu Ende gehen. Wenn sie Glück haben, hat ihr Bauer rund um seinen Hof Weideflächen, auf denen sie noch draußen sein können, bis der Winter da ist.


 
Wie schon in Pfronten hörte man sie, bevor man sie sah! Und sie kamen alle gleichzeitig, an die hundert Tiere. Um die Kontrolle nicht zu verlieren, bevor sie auf die wartenden Menschen am Wegesrand stießen, ließ man alle ankommenden Rinder zunächst auf eine große abgezäunte Weide laufen. Das war ein kluger Schachzug! Dort konnten sie sich im Wortsinne erst einmal „auslaufen“.

Dann durfte die einzige Kranzkuh sich in ihrer vollen Schönheit zeigen! Wirklich wunderbar gestaltet war ihr Kopfschmuck, geflochten aus Zweigen, Blumen, Gräsern und Bändern und ich hoffe für sie, dass sie sich ihrer Schönheit und der Bewunderung bewusst war, denn angenehm war es mit Sicherheit nicht, diese riesige Krone über Stunden zu tragen. (siehe auch „hier“)

Kranzkuh

Danach wurden die Rinder, ungestüme Jungtiere, in Gruppen an uns Zuschauern vorbei nach unten zum Viehscheidplatz geführt. Auch hier hatten die Alphirten genug zu tun, um die Tiere in Schach zu halten und es war gut, dass in kurzen Abständen große Blumenkästen den Weg begrenzten. Das Braunvieh ist die älteste und immer noch verbreitetste Rinderrasse im Allgäu. Es heißt, dass es sich am besten an die klimatischen und landschaftlichen Bedingungen des Hochgebirges angepasst hat, dass es klug und schön ist. Letzteres können wir auf jeden Fall bestätigen! Nicht nur, dass ihm das gleichmäßig braune Fell in vielen Farbnuancen ausgezeichnet steht, sondern absolut bezaubernd sind die im Inneren hellen und im Sonnenschein an den Rändern durchscheinenden Öhrchen, die sanften großen Augen und das Haarbüschel über der Stirn. Zum Verlieben! Da kommt kein Tiroler Grauvieh mit, kein Schweizer Fleckvieh und auch nicht die schwarz-weißen Holsteiner.

Allgäuer BraunviehFleckvieh

Trotzdem sind die „Gscheckten“ auf dem Vormarsch und in Süddeutschland inzwischen die häufigsten Rassen. Das Braunviehrind mit seinen rund 600kg Lebendgewicht bei einem Stockmaß von etwa 1,40m wird vom Fleckvieh noch um 100kg übertroffen. Stiere können es sogar auf über eine Tonne bringen. Früher allerorten als Dreinutzungsrasse (Milchlieferant, Fleischproduzent, Arbeitstier) geschätzt, gelten Rinder heute zumindest hierzulande allenfalls noch als Zweinutzungsrasse und da ist gerade das Allgäuer Braunvieh ein typischer Vertreter, gleich gut geeignet als Milch- und Fleischlieferant. Die Milchproduktion weltweit führt allerdings die Holsteiner Rasse an. Während man um 1900 herum schon zufrieden war, wenn eine gesunde Kuh 1500 Liter Milch pro Jahr gab, hat man es durch Züchtung geschafft, dass eine Holsteinerkuh, früher als Schwarzbunte oder Rotbunte bekannt, es auf durchschnittlich 10000 Liter im Jahr bringt. In der Massenabfertigung gehen bis zu 16000 Liter! Diese Kühe werden allerdings nicht alt. Im Allgäu gibt man sich mit 8000 Litern pro Jahr zufrieden, wobei dies, mit früher verglichen, schon eine gewaltige Differenz ist. Insbesondere Zuchtkritiker und Tierschützer führen an, dass Züchter die Leistung von Kühen in den vergangenen 100 Jahren stärker vorangetrieben haben als Ingenieure die Motorisierung von Automobilen. Erstauntes Smiley

Das Video zum Text (3:24 Minuten):


 
Viehscheid Nesselwang Der Viehscheidplatz war im Hof der Freiwilligen Feuerwehr und um einiges kleiner als in Pfronten. Das „Abschellen“ geschah auf dieselbe Weise, vorher gab es aber noch eine offizielle Ansprache, in der auch darum gebeten wurde, mit Mountainbikes doch bitte auf den Wegen zu bleiben und nicht kreuz und quer über die Alpwiesen zu fahren. Hier in den Bergen sieht man kaum noch ein Mountainbike ohne Elektroantrieb und zumindest die Touristen scheinen sich nicht an die Regeln zu halten. Da sie mit Motor überall dort fahren können, wo es ohne nicht mehr möglich wäre, tun sie es auch.

Viehscheid Nesselwang

Die Kranzkuh konnten wir dann noch ganz aus der Nähe bewundern! Und auch ihr “Kälbchen”! Zwinkerndes Smiley

KranzkuhKranzkuhKranzkuhKranzböckchen

Nachdem ihnen die Schellen abgenommen worden waren, wurden die meisten Rinder fein säuberlich aufgereiht an Holzbalken festgebunden, immerhin mit Blick auf Gras, aber auch hier ohne Wasser zum Trinken, und mussten warten, bis ihr Transportanhänger da war.

Viehscheid NesselwangViehscheid NesselwangViehscheid Nesselwang

Viele davon passten gleichzeitig nicht auf den Feuerwehrhof. Und einige Wagen waren so hoch, dass die Rampe dermaßen steil war, dass die Rinder echte Schwierigkeiten hatten, die Ladefläche zu erreichen. Wir haben nicht verstanden, wieso man nicht eine doppelt so lange Rampe anlegen kann, die auf der Hälfte einfach noch einmal von unten abgestützt wird. Es spielten sich richtige Dramen ab, weil einigen Rindern schon beim ersten Versuch die Vorderläufe wegknickten und sie, sicher ziemlich schmerzhaft, auf die Knie fielen. Und da kaum ein Rind freiwillig und unerschrocken die Rampe in Angriff nahm, wurde gezerrt, geschoben und leider auch geschlagen. Das war NICHT schön anzuschauen und eine Frau wurde richtig laut und beschimpfte den Bauern als Tierquäler. Der war sowieso schon sichtlich gestresst und zerrte sie ziemlich grob von seiner Rampe, auf die sie sich begeben hatte, wieder herunter. Die Frau, nicht die Kuh! Das war dann auch der Zeitpunkt, an dem wir gingen. Schade, es gab der ansonsten schönen Veranstaltung einen leicht faden Nachgeschmack. So viel Aufwand mit dem Alpabtrieb auch getrieben wird, so sind die Rinder letztendlich eben doch bloß Ware. Enttäuschtes Smiley

Viehscheid NesselwangViehscheid Nesselwang

Ein kleines, nettes Fachbegriffe-Lexikon für Interessierte gibt es „hier“ und dann natürlich noch das Video zum Text (3:54 Minuten):


 
written by Ingrid
photos and videos taken with iPhone

P.S.: Wie immer könnt ihr die Fotos durch anklicken auf Originalgröße bringen und den Fototext lesen, wenn ihr den Mauszeiger auf das Foto führt.